Gegen das Vergessen
Fast ein Jahr lag das Projekt „Zweitzeugen“ an der Gesamtschule Kevelaer auf Eis oder besser gesagt, konnte der Förderscheck des unternehmerinnen forum niederrhein nicht eingelöst werden. Aus dem Geldtopf der FrauenFilmNacht 2018 durften zwei Schulen (Europaschule Kamp-Lintfort und Gesamtschule Kevelaer) die Mittel für je 2 Tage Workshop der ‚Heimatsucher‘ verbuchen. Sarah Hüttenberend, eine der Gründerinnen von Heimatsucher e.V. hatte ihren Verein und das Multiplikator*innenprojekt „Zweitzeugen“ auf der FrauenFilmNacht vorgestellt und dafür geworben, die wichtige Schularbeit gegen das Vergessen der Naziverbrechen zu unterstützen.
Spenden aus der FrauenFilmNacht für Projekttage
an der Europaschule Kamp-Lintfort und Gesamtschule Kevelaer
Jetzt am 8. und 9. Juli 2019 war es in Kevelaer soweit.
Zeitzeugen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden und Konzentrationslager, Hunger, Krankheit, Todesmarsch überlebt haben, sprechen -oft erst nach Jahrzehnten des Schweigens- mit den Heimatsucher*innen, die sie an ihrem Heimatort besuchen und lange, intensive Gespräche über ihre Erlebnisse mit ihnen führen. Die Zeit drängt, denn die wenigen Holocaust -Überlebenden, die jetzt noch befragt werden können, sind heute bereits über 90 Jahre.
Ihre Geschichte wird aufgeschrieben und von den Heimatsucher*innen in die Schulen getragen. Was für Schülerinnen und Schüler in den meisten Fällen unvorstellbar ist, was sie in ihren Geschichtsbüchern zum Nationalsozialismus und Judenverfolgung lesen, erleben sie anhand dieser (Über-)Lebensberichte hautnah. Die heute noch lebenden Zeitzeugen waren ja zu dieser Zeit im gleichen Alter wie die Jugendlichen. Plötzlich wird ganz konkret, was es heißt, als junger Mensch nicht mehr in die Schule gehen, nicht mehr ins Kino, kein Radio mehr besitzen zu dürfen oder später im Krieg keine Lebensmittelkarten mehr zu bekommen. Sie erfahren durch den Vergleich mit ihrer eigenen heutigen Situation als Jugendliche, wie das Alltagsleben von jüdischen Familien und politisch Verfolgten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten von Tag zu Tag mehr eingeschränkt wurde bis hin zur Verhaftung und Verschleppung in die Konzentrationslager, wo sie wie durch ein Wunder oftmals als einzige ihrer gesamten Familien überlebt haben und nach dem Krieg ohne ihre Eltern, Geschwister, Verwandten in ein neues Leben gegangen sind. Im Gepäck ein ganzes Leben lang die grausamen Erinnerungen.
Lily und Michaela, die an diesem Dienstagmorgen den ersten Workshop mit den Schüler*innen der 9f durchführten, machen ihre Arbeit als Multiplikatorinnen ehrenamtlich. Sie sind Studentinnen, die ihr Wissen und ihre Anliegen mit sehr viel pädagogischem Fingerspitzengefühl für ihre Zielgruppe weitergeben. Die Schüler*innen lernen die Geschichte, in dem sie durch kleine Arbeitsaufträge immer wieder den Bezug zu sich selbst nehmen können.
Der Verein „Heimatsucher e.V.“ bestand in seinen Anfängen aus den zwei Gründerinnen Sarah Hüttenbehrend und Vanessa Eisenhardt, mittlerweile ist der Kreis der aktiven Zweitzeugen stetig gewachsen. Sie bringen sich mit ihrer Zeit und unglaublichem Engagement für ihre Sache ein: die Greuel der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wenn die letzten Zeitzeugen nicht mehr leben. Ihr Verein hat die Erinnerungen von rund 30 Zeitzeug*innen in Israel, Deutschland und anderen europäischen Ländern gesammelt und mit ihnen über die Jahre hinweg ein sehr enges Verhältnis gepflegt. Einige von ihnen leben noch, viele sind inzwischen verstorben.
Der Verein geht in die Schulen und übernimmt an Vormittagen den Geschichtsunterricht, einen ganz praktischen und anpackenden, ohne die ohnehin nur schwer begreifbaren Zahlen über Millionen Tote und Nazi-Verbrechen. Aber ganz nah an den Menschen, die das alles miterlebt haben. In Kevelaer waren diese Workshops eingebettet in Projekttage zum Thema Nationalsozialismus, mit Museumsbesuch und dem Finden von Stolpersteinen. Ilka Oelrichs, Klassenleiterin der 9f: „Es ist die letzte Schulwoche von den Sommerferien, wir wollten diese Woche mit einer sinnvollen Projektzeit ausfüllen und die Schülerinnen und Schüler konnten sich bisher gut auf dieses Thema einlassen.“
Als Michaela Hofmann die Geschichte von Erna de Vries, die heute als über 95jährige in Lathen im Emsland lebt, erzählte, wurde es immer ruhiger in der Klasse. Selbst die Coolsten und die mit den typisch flockigen Sprüchen hörten nun ganz still zu. Dann sollten die Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Fußabdruck zeichnen, ausschneiden und auf ihn schreiben, was sie an der Geschichte am meisten berührt hat. Alle hatten etwas zu schreiben. Höhepunkt des Morgens war das Briefeschreiben an Erna de Vries. Alle haben einen kleinen, persönlichen Brief an Erna geschrieben. Viele haben darin den Mut bewundert, mit dem sie ihrer Mutter ins KZ gefolgt ist, andere wiederum schrieben, wie traurig sie selbst gewesen wären, wenn sie an Erna’s Stelle gewesen wären, als sie von ihrer Mutter im Konzentrationslager getrennt wurden.
Lily Prollius betonte, dass Erna, die früher selbst in die Schulen gegangen ist, um ihre Geschichte zu erzählen, sich heute immer noch jeden Brief vorlesen lässt und dankbar dafür ist, dass es Menschen gibt, die gegen das Vergessen arbeiten. Den Schülerinnen und Schülern gaben Lily und Michaela mit auf den Weg, immer achtsam zu sein. Aufmerksam und sensibel zu bleiben, wenn sie rassistische und antisemitische Sprüche und Aktionen mitbekommen.
„Seid achtsam, bleibt aufmerksam und sensibel“
Lily, ‚Heimatsucher‘
Ilka Oelrichs, die Klassenleiterin, zog ein positives Resumée: „Ich bin mir sehr sicher, dass das Projekt auch bei den Schülerinnen und Schülern sehr gut angekommen ist!“
Gabriele Coché-Schüer
Fotos: Heimatsucher e.V., privat