Katrin Spielvogel – Lebensräume öffnen – wenn alle Türen verschlossen scheinen!

Zu einem größeren Publikum sehr privat über die eigene Brustkrebserkrankung zu sprechen,  ist an sich schon eine delikate Angelegenheit – nur wenig betrifft eine Frau direkter und folgenschwerer. So eine ‚Erzählung‘ braucht Präsenz und Nähe, wenn sie vertrauensvoll, atmosphärisch und authentisch sein soll.

Geht das virtuell überhaupt? Ja, es geht. Kathrin Spielvogel hat es geschafft – und die virtuell anwesenden Frauen haben sehr dazu beigetragen,  dass dieser Abend zu einem beeindruckenden und atmosphärisch dichten Ereignis wurde.

Das Jahr 2020 wird in all seinen Ausprägungen, Verwerfungen und Facetten in unserem kollektiven Gedächtnis bleiben. Im März hatten wir alle noch die Hoffnung, dass die Corona-Epidemie nicht zur Pandemie wird. Sie wurde. Und im unternehmerinnen forum mussten wir genauso wie alle Welt sehr bald darüber nachdenken, wie in Zeiten von bisher nicht gekannten Beschränkungen die Verbindung untereinander im forum gehalten werden kann.

Jetzt im Oktober 2020 standen die Zeichen gut. Im Hause Kloster-Kraul bereitete man sich gerne auf unsere Veranstaltung vor, Kathrin Spielvogel würde kommen, unsere Mitgliedsfrauen Dr. Katrin van Heumen, Dr. Annette Hahne und Dr. Daniela Rezek würden als Fachfrauen die dem Vortrag folgende Diskussion begleiten. Wieder einmal die Rechnung ohne das Virus gemacht! Steigende Infektionszahlen im Kreis Wesel und Kleve machten eine Neuorganisation zwingend notwendig.

Videokonferenzen und online-Seminare sind mittlerweile für die meisten von uns das neue Mittel der Wahl, aber einen ganzen forum –Abend online zu wuppen ist eine echte Herausforderung.

40 Teilnehmerinnen hatten sich angemeldet und der virtuelle Kontakt untereinander funktionierte von Beginn an.

Barbara Baratie übernahm die Begrüßung und Vorstellung der Akteurinnen, übergab an Dr. Daniela Rezek– leider wieder nur virtuell- unsere Spende (2.2013,09 €! Wie gerne hätten wir die persönlich übergeben!) aus der FrauenFilmNacht für den neu gegründeten Hilfsfonds für an Brustkrebs erkrankte Frauen und leitete dann über an die Referentin.

Als Kathrin Spielvogel begann, den Begriff „Lebensraum“ über die emotionale Sicherheit zu definieren, war klar, das wird jetzt persönlich. Ein individueller Lebensraum ist dann stabil, so Spielvogel,   wenn er von diesen  5 Säulen getragen wird:

→ ein positives Selbstgefühl
→ das Recht auf Selbstbestimmung
→ dadurch, dass  man Ängste und Sorgen selbst kontrollieren kann
→ über die Fähigkeit, die eigene Gesundheit aufrechterhalten zu können
→ die Chance, eigene Lebensziele verwirklichen zu können

Kathrin Spielvogel hatte zum Zeitpunkt ihrer Krebsdiagnose 2006 alles das in ihrem Lebenspaket. Schauspielstudium in München bei dem renommierten  August Everding, erste Engagements am Theater, dann Rollen in zahlreichen Filmen und TV-Serien. „Ich war mit meinen 34 Jahren mitten im Leben  angekommen. Ich war jung, erfolgreich, war gut vernetzt, kurz – ich hatte einen echt guten Lauf.“

Es brauchte eine Zeitlang, bis die Diagnose Brustkrebs  bei der jungen Frau in ihrem Denken Kontur annahm. Dann allerdings mit Wucht. „Es war für mich der freie Fall, der Supergau. Von jetzt auf gleich war mir der Boden unter den Füssen weggezogen. Alles, was mein Leben bis dahin ausgemacht hatte, zählte plötzlich nicht mehr. Ich habe Krebs! Was bedeutet das? Ich sterbe! Oder doch nicht? Und immer wieder die Frage: Warum ich? Was habe ich falsch gemacht?

Die Ärzte rieten ihr, sich die Brust abnehmen zu lassen und eine hochdosierte Chemotherapie anzuschließen, weil der Krebs schon gestreut hatte. Sie beginnt, ein Videotagebuch zu führen und filmt sich über 9 Monate selbst. Die Kamera ist nur Zuhörerin und Zuschauerin, keine Trösterin. Sequenzen aus dem Videofilm zeigen eine zutiefst verzweifelte junge Frau, von der Chemotherapie gezeichnet, die zwischen Hoffnung und totaler Niedergeschlagenheit schwankt,  die mit ihrem Schicksal zutiefst hadert und gleichzeitig immer wieder sagt: „ich will gesund werden, ich will doch nur leben.“

„Ganz klar stand mir nach OP und Chemotherapie vor Augen, dass es eine irreversible Verwandlung gegeben hat. Eine Brust ist weg und es wird sie nie wieder geben. Aber ich war jung und wollte lieben. Ich wollte immer Kinder haben. Konnte ich das überhaupt? Ich hatte ein Stück Weiblichkeit verloren. Ich fragte mich ununterbrochen:  kann ich jemals wieder eine begehrenswerte Frau werden? Bin ich überhaupt noch eine Frau?“

Die Zeit der Therapie war nicht nur ein Kampf gegen den Krebs. In dieser Zeit geht ihre Beziehung in die Brüche, sie verliert (natürlich) alle Engagements, lebt von ihren Ersparnissen. Als Schauspielerin hat sie kein doppeltes Netz und Boden. Es ist eine Zeit, in der sie sich komplett ausgeliefert und hilflos fühlt. Sie verliert ihre Kraft und Energie und weiß doch, dass sie sich neu erfinden muss…

„Was machen die negativen, eventuell sogar lebensbedrohlichen Krisen mit uns? Wir geraten aus dem Gleichgewicht oder verlieren manchmal vollkommen die Orientierung. Unser gewohnter Lebensraum scheint bedroht und nicht mehr sicher. Wie befreie ich mich aus so einem Zustand? Was kann ich tun, um aus dem vermeintlichen Ende einen Anfang zu machen?“

Nichts ist mehr so, wie es einmal war, aber gerade das macht es Kathrin Spielvogel möglich, ihr Leben ganz neu aufzusetzen. Sie will weg, weit weg.  Ihre Wahl fällt auf Hawaii, wo sie bei einer Familie arbeitet und lebt. Und dort in Maui, tausende von Kilometern von zuhause weg, spürt sie erstmals wieder das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch und hat doch unglaublich viel Angst, dass der Mann, mit dem sie einen heftigen Flirt erlebt, sie nicht begehrenswert findet. Als sie ihm versucht zu sagen, dass bei ihr etwas anders sei als bei „normalen“ Frauen,  hatte der nur die Angst, dass er sich in einen Mann statt in eine Frau verliebt hatte. Alles, wovor Kathrin Spielvogel  sich seit ihrer Krebstherapie gefürchtet hat, löste sich in Nichts auf. Dieser Schlüsselmoment war der erste Schritt in eine neue Sinnlichkeit.

„Aber es war auch endlich wieder das Gefühl, das Ruder wieder selbst in die Hand nehmen zu können, wieder die Kontrolle über mein Leben zu gewinnen, ich wollte wieder selbstbestimmt leben, nicht mehr hilflos und ausgeliefert sein. Was also muss ich tun, wenn alle Türen verschlossen scheinen? Auf alle Fälle kann ich eines immer: die Perspektive wechseln. Da haben wir eine echte Option: raus aus dem Stillstand – das Leben neu und positiv entstehen lassen“, so Kathrin Spielvogel. „Ich habe gelernt, dass mein positives Denken ganz wesentlich meine Psyche beeinflusst. Wir alle machen uns gerne ‚Vorschusssorgen‘, denken immer über alle möglichen ‚was ist, wenn…‘ nach. Wir müssen uns über unsere ureigenen Bedürfnisse im Klaren werden und das, was wir brauchen, von einer Art Bedürfnis-Buffet zusammenstellen. Und das loslassen, was wir nicht bekommen können.“

       

Der Weg war lang, bis Kathrin Spielvogel an dem Punkt war, dass sie andere Frauen über ihre eigene Geschichte für Krisen stark machen konnte. Heute sieht sie es als ihre Aufgabe: „Bei meinen Vorträgen will ich Frauen darin bestärken, in besonderen Krisenzeiten ganz aktiv für sich zu sorgen. Natürlich weiß ich, dass der Krebs jederzeit wiederkommen kann, aber ich will mich nicht von der Angst besiegen lassen. Keine Frau sollte das.  Und sehen Sie: ich bin schwanger geworden, habe eine gesunde kleine Tochter, ich konnte sie mit einer Brust ganz normal stillen.“

Es entwickelte sich im Nachgang eine sehr intensive und vielschichtige Unterhaltung über die eigenen Ressourcen, Kraftfelder und Krisenresilienzen. Online- wohlgemerkt in einer Atmosphäre, die man sich so emotional und tiefgehend im Vorfeld nicht hätte vorstellen können. Danke an Kathrin van Heumen, die dieses Thema ins forum getragen hat, an Annette Hahne und Daniela Rezek, die mit ihrer Erfahrung und Expertise Kathrin Spielvogel an diesem Abend begleitet haben.

 

Gabriele Coché-Schüer