Wie Frauen die moderne Welt erschufen- und warum wir sie nicht kennen

Wer hat’s erfunden? Wer hat’s gedacht? Wer hat’s gemacht? Nein, durchaus nicht immer die „großen“ Männer, wie uns die (meist) männlichen Biografen berühmter Wissenschaftler, Künstler und Politiker die längste Zeit glauben machen wollten. In unseren Buchtipps besprechen wir regelmäßig Bücher, mit denen die zahlreichen weiblichen „hidden champions“ nach vorne auf die Bühne geholt werden, die weltweit epochemachende Erfindungen, Entdeckungen und Innovationen angestossen und vorangebracht haben.

Die unerzählte Geschichte“ von Vera Weidenbach ist ein weiteres Buch, das mit dem über Jahrhunderte sorgfältig gepflegten Image großer Männer der Geschichte aufräumt. Die Journalistin hält dagegen. Sie hat dafür Biografien, Zeitungen und Tagebücher von Frauen in Europa und den USA gesichtet, die im 19. und 20 Jahrhundert ganz entscheidend -wenn nicht überhaupt – mit ihren bahnbrechenden Forschungen und Errungenschaften ihre und unsere Zeit (mit-)geprägt haben.

Vera Weidenbach geht es nicht darum -quasi als Gegenentwurf – Frauen zu den wahren Heldinnen zu stilisieren, sie will ihnen endlich den hochverdienten Platz in der Geschichte sichern. Denn eines ist offensichtlich: Nur allzu gerne nutzten Männer – sei es als Ehemänner und Kollegen oder beides- die wertvollen wissenschaftlichen Arbeiten ihrer weiblichen Pendants für ihren eigenen Ruhm. Und das war im 19. Jahrhundert sehr einfach: Patente z.B. durften damals nur von Männern eingereicht werden. Damit verloren die Wissenschaftlerinnen und Tüftlerinnen jegliches Recht auf ihre Erfindungen, Forschungen und die verdiente Anerkennung.

Ein Beispiel, welche fatalen Folgen die männlich dominierte Wissenschaftswelt für eine Frau hatte, ist die englische Mikrobiologin Rosalind Franklin, die bereits als junge Wissenschaftlerin die menschliche DNA entschlüsselt hat. Mittlerweile wissen wir, dass (ohne nennenswerte Skrupel) ihre Kollegen Francis Crick und und James Watson diese Arbeit genutzt und die Forschungsergebnisse unter ihrer beider Namen veröffentlicht haben – und 1962 dafür den Nobelpreis erhielten.

Den Nobelpreis hätte der Chemiker Otto Hahn nie ohne die kongeniale Kernphysikerin Lise Meitner bekommen. Sie geht leer aus, obwohl sie insgesamt 49 mal für diese Auszeichnung vorgeschlagen wurde.

Den ersten Trickfilm hat 1926 die Scherenschneiderin Lotte Reiniger gedreht und nicht – wie jahrzehntelang erzählt- Walt Disney. Die Liste ließe sich fortsetzen…

Auch in Kunst, Literatur und Musik, so Vera Weidenbach in ihrem Buch, finden sich immer wieder Beispiele, wie sich (oft vertraute) Männer geschickt und öffentlichkeitswirksam vor fachlich ebenbürtige Frauen gedrängt haben, um die Lorbeeren zu ernten.

Das Beispiel der tragischen Lebens- und Schaffensgeschichte der Camille Claudel*, einer begabten Schülerin und späteren Geliebten des berühmten Bildhauers Auguste Rodin legt offen, wie ein um seine Pfründe fürchtender Mann eine höchsttalentierte, aber stets an sich zweifelnde Künstlerin bewußt klein hält und so davon abhielt, sich voll zu entfalten – und dabei selbst zu unsterblichem Ruhm kommt.

Bücher wie dieses brauchen wir, weil sie zeigen, dass es keine vereinzelten Erzählungen über geniale Frauen sind, sondern dass sie sich Stück für Stück wie ein Puzzle zusammenfügen, damit groß und sichtbar werden und so ihren Platz in der Geschichte einnehmen.
Am Ende werden sie moderne Rôle Models!

Gabriele Coché-Schüer

* Buch- u. Filmtipp: Anne Delbée; ‚Der Kuss, Kunst und Leben der Camille Claudel‘
und Film ‚Camille Claudel‘ (1988) mit Isabelle Adjani

Unerzählte Geschichte
Vera Weidenbach
Rowohlt Taschenbuch Verlag
352 Seiten
20,00 € (D) / 20,60 € (A)
ISBN: 978-3-499-00827-6